"Weil Festtag Allerheil`gen ist"

Österreich, November 2004.

Die Sonntagsmesse ist zu Ende, der Pfarrer verabschiedet die Seinen mit Segen nach Hause. Nach Hause? Nein, der Großteil der Gottesdienstteilnehmer strömt nach dem Kirchgang keineswegs in die eigenen Mauern zurück.

Am Kirchplatz wird getratscht, gegrüßt, man schaut, wen die Augen erblicken. Es wird gekniffen und in die Seite gestupst, anstatt jemanden direkt anzusprechen, es wird gelacht und gleichzeitig wird über die mangelnde Organisation so mancher vorangegangener Messe gesprochen. Viele Köche verderben den Brei, so die einheitliche Meinung. Die Gemeindepolitik tut sich an einem stillen Plätzchen zusammen, man merkt: Es liegt was in der Luft.

Wenige Zeit darauf brechen die ersten aus dem Gefüge, sie ziehen Richtung Auto und mit diesem gen Friedhof. „Weil Festtag Allerheil`gen ist“, so sang der Chor noch vor wenigen Minuten. Weil heute Festtag ist, weil wir heute (und morgen) der Verstorbenen gedenken, die einst auch in unseren Reihen mit uns schwätzten, den Blick über den Kirchplatz streifen ließen und vielleicht auch politische Entscheidungen nach der Sonntagsmesse trafen.

Aber warum erinnern wir uns nur an diesem Tag im Jahr daran, dass wunderbare Menschen schon aus unserem Leben gingen? Warum ist es zwar für alle selbstverständlich, am 1. und 2. November die Gräber zu besuchen, sonst aber nur zu besonderen Zeitpunkten? Lebt denn ein verstorbener Mensch in meinen Gedanken und Erinnerungen nur zu Weihnachten, Allerheiligen und an seinem eigenen Geburtstag weiter?

Manchmal kommt es mir so vor, als wollten wir die übrigen Tage im Jahr bewusst auf das vergessen, was früher einmal war, was auch unsere eigene Vergangenheit kennzeichnet.

Ich wehre mich mit aller Vehemenz dagegen, nur an durch den Kalender bestimmten Tagen in meine Vergangenheit zurück zu kehren. Und ich weigere mich, den Allerheiligen-Tourismus mit zu machen.

Ich werde die Gräber meiner Liebsten besuchen, so wie ich es auch sonst mache, wenn ich angenehme aber auch traurige Erinnerungen habe, wenn ich etwas loswerden möchte oder wenn ich auch einfach Zeit für Gedanken brauche. Ich werde weiterhin nicht auf den Menschen vergessen, der unter dem schweren Stein begraben liegt, und die kleine flackernde Flamme der Kerze als Zeichen des lebendig geworden Seins sehen.

Auch heute. Aber fernab jeglicher auf den Friedhof verlegter Familientreffen und fernab des Preises um die beste, auffälligste und am meisten schreiende Grabdekoration, die mit dem Menschen, an den sie erinnern soll, nichts zu tun hat. Ich weigere mich.
Tubias - 1. Nov, 14:10

Sehr, sehr bewegend fand ich die Stelle in dem letzten Harry-Potter-Film, als der Gefangene von Askaban sagte: „Die Menschen, die uns etwas bedeutet haben, leben in unserem Herzen fort. Immer.”

Das ist für mich mit meinem materialistischen Weltbild die Art und Weise, wie Menschen nach ihrem Tode nicht verlorengehen: Wenn ich mich an meinen Urgroßvater (*1884)erinnere, der zu meiner Entwicklung mehr beigetragen hat als mein Vater, und dessen Grab vor Jahren schon aufgelöst wurde, dann lebt er fort.

Ich vermute mal, jeden Tag leben Verstorbene in meinen Gedanken auf. Die Floristen haben nichts davon...

Ich wünsche mir sehr, daß es auch nach meinem Tode Menschen geben wird, die mich nicht vergessen.
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Übrigens, heute Morgen habe ich in den Nachrichten gehört: In einigen Städten Niedersachsens (Allerheiligen kein landesweiter Feiertag) wird in den Kaufhäusern ein Ansturm von „Feiertagstouristen” aus Nordrhein-Westfalen (Allerheiligen ein Feiertag) erwartet. Dieses sei traditionell einer der einkaufsstärksten Tage des Jahres, es ist teilweise zusätzliches Personal eingestellt worden. Autobahnstau und volle Parkhäuser, nicht: Autobahnstau und volle Kirchen.

freilich - 1. Nov, 14:21

sie werden dich sicher

NICHT vergessen. Aber dir wird das dann doch ziemlich egal sein.
Tubias - 1. Nov, 14:26

Es ist tröstlich *jetzt*. Mich zu fragen: Wer hängt an mir, so wie ich bin?

Mir ist es dann egal, ich schlafe dann für immer. Aber warum z. B. setzen Menschen Testamente auf? Weil es ihnen nicht egal ist, was nach ihrem Tode ist.

Das ist eben soziale Kultur.
freilich - 1. Nov, 14:31

testamente

haben ja auch ihren Sinn. Die Nachkommen "müssen" schließlich weiterleben. Und man möchte schließlich gerecht sein.
Und sich vorstellen, wie es ist, wenn man nicht mehr ist, das schafft auch keiner. So gesehen kann man den Tod nur mit Parametern des Lebens messen, also gar nicht.
mandarine - 1. Nov, 23:37

Testamente an sich sind aber nicht immer für die Gerechtigkeit, das so anbei.


Bei uns staut es auch, auf allen Straßen zu größeren Friedhöfen. Feiertag ist ja in ganz Ö, sodass man eigentlich kaum eine Alternative hat. Mir geht diese aber auch nicht ab, ich genieße den zusätzlichen Ruhetag sehr...

Tubias, ich wünsche es dir und auch mir, dass es Menschen gibt, die sich nach unserem Tod an uns und unsere Taten erinnern, können und wollen. Mein Körper wird es nicht mehr spüren und mitbekommen, aber irgendwo wird es weiter gehen...

Ich werde oben eine Stelle aus dem Kleinen Prinzen posten...
sharona - 1. Nov, 23:10

hm. ich bin generell nicht gern auf dem friedhof. zumindest nicht, wenn ich vor dem grab von jemandem, der mir sehr wichtig war, stehe. das hat so etwas endgültiges.

mandarine - 2. Nov, 00:16

Es ist auch endgültig, zumindest solange wir selber leben. Alles weiter kommt dann auf die persönliche Einstellung zum Dasein nach dem Tod an...

Ich gehe gern auf den Friedhof, es ist für mich ein bisschen wie einen guten Freund besuchen, mit ihm reden, bei ihm sein. Hilft auch, die Gedanken bewusst zu bündeln.

Und wenns wirklich gar nicht mehr gut drumherum, dann ist an diesem Ort garantiert ein Fleckchen Ruhe, ganz unabhängig davon, ob man bewusst ein Grab ansteuert oder nicht...

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